Arbeitskräftemangel: Inlandpotential und Berufswahl im Fokus
Pascale Ineichen

Arbeitskräftemangel in der Ostschweiz bereits spürbar
Der Fachkräftemangel-Index Schweiz erreichte 2022 einen Rekordwert. Am ausgeprägtesten ist das Defizit bei Gesundheits-, Informationstechnologie- und ingenieurtechnischen Fachkräften, Bauführenden sowie Maschinenmechanikerinnen und -mechanikern. Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer Befragung von Ostschweizer Unternehmen, für welche der Mangel vor allem in den Bereichen Ingenieurberufe, Berufe der Informatik, der Metallverarbeitung, des Maschinenbaus sowie bei den technischen Fachkräften spürbar ist. Über 90% der befragten Unternehmen in der Region beurteilen die Situation des Arbeitsmarktes bereits heute als angespannt.
Der Fachkräftemangel-Index Schweiz erreichte 2022 einen Rekordwert.
Handlungsbedarf zur Schliessung der Lücke
Kurzfristig kann das im Inland verfügbare Potenzial von Arbeitskräften noch besser genutzt werden, indem die Rahmenbedingungen des Arbeitsmarkts rasch an die geänderten Bedürfnisse der Arbeitnehmenden angepasst werden. Diesbezügliche Ansatzpunkte sind beispielsweise die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle, Teilzeit-Pensionierungslösungen, damit das Potenzial von erfahreneren Arbeitnehmenden länger genutzt werden kann, sowie eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, um vor allem Mütter noch besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Produktivitätssteigerungen durch Innovationen sowie die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung werden hoffentlich ebenfalls zur Entlastung der Situation beitragen. Noch schwierig abzuschätzen ist, wie stark die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland anhält und damit ebenfalls entschärfend wirkt.
Interesse für technische Fragestellungen früh wecken
Um den fehlenden Bedarf zu decken, müssen weiterhin genügend Arbeitskräfte mit den nachgefragten Kompetenzen und Fähigkeiten ausgebildet werden können. Diesen Sommer war es für Unternehmen wiederum nicht einfach, Lernende zu finden. Anfang August waren in der Schweiz für das beginnende Ausbildungsjahr von 80 000 angebotenen Lehrstellen über 12 000 noch nicht besetzt. Vor allem im Gastgewerbe, im Bau und in der Maschinenindustrie gestaltete sich die Rekrutierung schwierig. In naturwissenschaftlichen und technischen Berufen ist der Fachkräftemangel besonders stark spürbar. Deshalb muss es gelingen, die jüngere Generation vermehrt für solche Berufsfelder zu begeistern. Jugendliche sollen möglichst frühzeitig mit entsprechenden Fragestellungen in Kontakt kommen, damit ihre Neugier dafür geweckt werden kann.
Die Industrie- und Handelskammer Thurgau unterstützt denn auch Initiativen wie SimplyNano: Das Projekt stellt zwei Experimentierkoffer zu Fragestellungen der Nanotechnologie zur Verfügung, welche auf der Mittelstufe und der Sekundarstufe eingesetzt werden können. Die Schülerinnen und Schüler können damit selbständig Experimente durchführen und sich praxisorientiert mit naturwissenschaftlichen Themen auseinandersetzen (siehe Experimente der Nanotechnologie für Thurgauer Schulen). Das Projekt bietet zudem die Chance, auch bei Mädchen vermehrt ein Interesse für diese Themen zu wecken. Dies ist nötig, denn im Vergleich zu den übrigen Ländern der OECD ist der Frauenanteil in MINT-Studienfächern in der Schweiz immer noch sehr gering.
Optionen der Bildungswege aufzeigen
Mit den allgemeinbildenden Schulen (Gymnasien und Fachmittelschulen) sowie der dualen beruflichen Grundbildung (Lehre) bietet die Schweiz zwei hervorragende Bildungswege, die überdies bezüglich der weiteren Entwicklungsmöglichkeiten äusserst durchlässig sind. Weil die Weichen für die Berufswahl allerdings schon früh gestellt werden, ist entscheidend, die Jugendlichen an der Schnittstelle zum Übergang der obligatorischen Schulzeit in eine weiterführende Schule oder Berufslehre umfassend zu informieren und optimal zu begleiten.
Sich einen Überblick über das Angebot an Berufsbildern zu verschaffen, ist gar nicht so einfach: In der Schweiz werden aktuell allein in der dualen beruflichen Grundbildung 250 Berufe angeboten. Aufgrund der technologischen Entwicklung und Anpassung von Arbeitsprozessen sind diese zudem einem dynamischen Wandel unterworfen. Eine wichtige Hilfestellung im Entscheidungsprozess bietet der obligatorische Berufswahlunterricht auf der Sekundarstufe, welcher den Schülerinnen und Schülern Optionen und aufzeigt und Informationsressourcen zur Verfügung stellt (siehe Jugendliche zum Start in die Berufswelt). Zentral ist aber auch, die Eltern frühzeitig in den Prozess mit einzubinden, denn sie sind – noch vor den Lehrpersonen – die wichtigste Anlaufstelle für Fragen zu den Ausbildungswegen. Um ihre Kinder optimal beraten zu können, müssen sie mit den Entwicklungsmöglichkeiten der verschiedenen Bildungswege vertraut sein.
Ziel ist es, dass die Jugendlichen denjenigen Weg einschlagen, der den eigenen Fähigkeiten und Neigungen am besten entspricht. Dafür müssen sowohl der allgemeinbildende als auch der Berufsbildungsweg in der Schweiz gesellschaftlich gleichermassen wertgeschätzt werden und die Attraktivität der Berufsbildung erhalten bleiben.