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Der bilaterale Weg als beste Option in der Europapolitik

Noch in diesem Jahr wird das Verhandlungsresultat über die Weiterentwicklung der Bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU erwartet. Im Hinblick auf die bald wieder aufflammende innenpolitische Diskussion ist es wichtig, dass das Konzept bzw. die Vorteile einer Teilnahme der Schweiz am europäischen Binnenmarkt verstanden wird. Die Option eines Freihandelsabkommens ist auch Sicht der IHK ungenügend.
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Die Frage nach dem zukünftigen europapolitischen Weg hängt in wirtschaftlicher Hinsicht stark damit zusammen, ob die Binnenmarktteilnahme erhalten bleiben werden soll, oder ob sich die Schweiz auf Erleichterungen beim Marktzugang beschränken sollte. Wie die Abbildung unten verdeutlicht, kennt die EU grob drei mögliche Modelle in Bezug auf den Binnenmarkt: Freihandelsansätze regeln Erleichterungen für den Marktzugang, während eine Binnenmarktteilnahme mit den damit verbunden Vorteilen etwa den assoziierten EWR-Staaten ermöglicht wird, und natürlich den Mitgliedstaaten.

Massgeschneiderte Lösung

Je weiter diese Integration in den europäischen Binnenmarkt reicht, umso grösser sind umgekehrt die Verpflichtungen, sich am europäischen Recht zu orientieren. In diesem Spannungsfeld sind die europapolitischen Optionen der Schweiz anzusiedeln. Der aktuelle bilaterale Weg der Schweiz ist eine sektorielle Binnenmarktteilnahme. Er lässt sich also nicht als vollwertige Binnenmarktassoziierung charakterisieren, geht aber dennoch deutlich über einen reinen Freihandelsansatz hinaus. Aus Sicht der beiden Industrie- und Handelskammer Thurgau und St.Gallen-Appenzell stellt der bilaterale Weg damit nach wie vor die zu bevorzugende Option in der Europapolitik dar. Über die Bilateralen haben die Schweiz und die EU in jenen Bereichen eine sektorielle Binnenmarktteilnahme vereinbart, in denen für die Schweiz hierfür ein überwiegendes Interesse besteht, und in anderen Bereichen nicht. Insofern ist der bilaterale Weg für die Schweiz massgeschneidert.

Der Schweizer Marktzugang ist auch eine Marktteilnahme

Der Marktzugang bezeichnet in Bezug auf die Wirtschaftsbeziehungen zur EU zunächst lediglich, dass Schweizer Unternehmen ihre Waren und Dienstleistungen auf dem europäischen Binnenmarkt anbieten können, und umgekehrt. Dieser minimale Marktzugang für Waren und teilweise Dienstleistungen ist heute bereits ohne jegliche bilateralen Verträge über das WTO-Recht sichergestellt. Dieses haben sowohl die Schweiz als auch die EU-Mitgliedstaaten ratifiziert, schliesst jedoch nur sehr rudimentär das Vorhandensein von Handelshemmnissen aus. Sollen Handelshürden abgebaut werden, ist das Freihandelsabkommen (FHA) das typische Instrument. Ein klassisches FHA eliminiert zunächst Zölle und Mengenbeschränkungen im Warenverkehr und bezieht sich im Fall der Schweiz typischerweise auf Industriegüter. Demgegenüber zielen modernere oder «umfassende» FHA auf weitere Handelsliberalisierungen wie die Öffnung gewisser Dienstleistungsmärkte ab. Die neueste Generation von Freihandelsabkommen sieht häufig auch Kooperationen in Bereichen vor, die den Handel per se nicht tangieren.

Teilnahme am Binnenmarkt

Unabhängig davon, wie umfassend ein Freihandelsabkommen ist, es behandelt stets den Marktzugang und baut Hürden im grenzüberschreitenden Waren- sowie teilweise im Dienstleistungsverkehr ab. Nicht vorgesehen ist dagegen eine Rechtsharmonisierung. Dies bedeutet, dass Produktvorschriften oder andere wirtschaftsrelevante Gesetze zwischen den Handelspartnern angepasst bzw. als gleichwertig an- erkannt werden. In Bezug auf technische Handelshemmnisse ist unschwer erkennbar, dass die Rechtsharmonisierung bedeutende Vorteile mit sich bringt. Je geringer die Unterschiede in den Regelungen, die ein Unternehmen in der Schweiz und in der EU für den Verkauf eines Produkts oder einer Dienstleistung beachten muss, umso geringer ist die Schwelle, diese Produkte auch im anderen Markt anzubieten.

Gesetzesharmonisierung im Interesse der Schweiz

Aufgrund der grossen wirtschaftlichen Bedeutung des europäischen Binnenmarkts ist das Schweizer Recht jenem der EU in binnenmarktrelevanten Bereichen sehr weitgehend angeglichen, d.h. es findet eine sehr umfassende Harmonisierung statt, weil das grundsätzlich im Interesse der Schweiz ist – unabhängig von der Vertragsgestaltung wie der Bilateralen. Die Schweiz übernimmt dabei EU-Rechtsakte von sich aus, ohne dass die EU zwingend anerkennt, dass die Schweizer Gesetzgebung äquivalent ist (autonomer Nachvollzug). Oder aber sie verpflichtet sich in einem Vertrag zur Übernahme gewisser EU-Rechtsakte (vertraglicher Nachvollzug). Im Gegenzug erhält sie grundsätzlich die Zusicherung, dass die Schweizer Gesetzgebung durch diese Verträge derjenigen der EU mindestens äquivalent oder gar gleich ist. Warum ist diese Zusicherung so wichtig? Im europäischen Binnenmarkt sollen für wirtschaftliche Aktivitäten möglichst überall dieselben Bestimmungen gelten. Mit anderen Worten: Erhält die Schweiz die Zusicherung, dass ihre Gesetzgebung kompatibel mit jener der EU ist, kann sie punktuell am Binnenmarkt teilnehmen, ohne selbst Mitglied der EU zu sein. Sie erhält sektoriell eine «mitgliedstaatsähnliche Stellung» im Rechtsraum der EU, womit das ursprüngliche Ziel des Schweizer bilateralen Wegs erreicht wird. Durch eine punktuell ähnliche rechtliche Annäherung an das EU-Recht werden die wirtschaftlichen Nachteile des EWR-Neins auszugleichen.

Fazit

Die Schweiz muss sich also entscheiden, ob sie den massgeschneiderte bzw. sektoriell begrenzte Teilnahme am europäischen Binnenmarkt behalten möchte. Die Erosion der Bilateralen Verträge sind für Unternehmen schlecht, weil sie Unsicherheit bedeuten und potenziell höhere Kosten verursachen, wenn der privilegierte Marktzugang wegfallen würde. Alternativ gibt es nur eine stärkere Integration der Schweiz in den Binnenmarkt (z.B. EWR) oder ein Aufgeben des bilateralen Wegs. Beide Alternativen sind aus Sicht der Ostschweizer Wirtschaft schlechter. Es gilt deshalb die Bilateralen Verträge erfolgreich weiterzuentwickeln.