Den bilateralen Weg für die Zukunft sichern
von Pascale Ineichen

Der Abschluss der Verhandlungen mit der EU ist ein bedeutender Meilenstein für die Fortführung des bilateralen Wegs. Nun gilt es, die Weichen für die künftige Zusammenarbeit mit der wichtigsten Handelspartnerin der Schweiz neu zu stellen.
Diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt sichern
Die EU ist unsere wichtigste Handelspartnerin: Fast zwei Drittel aller Exporte aus der Ostschweiz mit ihrer starken Industrie gehen in die Nachbarstaaten. Dank den bilateralen Verträgen geniessen Schweizer Unternehmen einen diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Das Nicht-EU-Land Schweiz hat von allen Ländern den grössten Nutzen aus diesem Markt gezogen – auch aufgrund seiner geografischen Lage.
Die Vorteile für unsere Unternehmen sind weitreichend: Der diskriminierungsfreie Marktzugang gewährleistet, dass Produkte, die in einem Land des Binnenmarkts zugelassen sind, auch in allen anderen Ländern verkauft werden dürfen. Zusätzliche bürokratische und teure Zulassungsverfahren sind nicht nötig. Aufgrund der Personenfreizügigkeit können Staatsangehörige der Schweiz und der EU ihren Aufenthaltsort zum Studieren, Forschen, Wohnen oder Arbeiten unter bestimmten Voraussetzungen frei wählen. Die Schweiz wird auch künftig auf Fachkräfte aus den Nachbarländern angewiesen sein, da ihre Arbeitsbevölkerung markant schrumpft. Der Zugang zu den europäischen Bildungs- und Forschungsnetzwerken ist für unser Land ein wichtiger Baustein für die Attraktivität als innovativer Wirtschaftsstandort.
Zusätzliche Abkommen zu Strommarkt und Lebensmittelsicherheit
Teil des Verhandlungspakets ist auch ein neues Strommarktabkommen: Die Schweiz ist eng mit dem Stromsystem der Nachbarländer verbunden. Das neue Abkommen ist ein sichert den Netzzugang, verbesssert die Netzstabilität und erhöht damit die Versorgungssicherheit der Schweiz mit Strom. Risiken wie ungeplante Stromspitzen, welche das Netz belasten, können im Rahmen des Abkommens minimiert werden.
Mit dem neuen Abkommen zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz Mitglied der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und erhält Zugang zu Frühwarnsystemen und Risikobewertungen, was Konsumentinnen und Konsumenten besser schützt.
Konkretisierung der Schutzklausel zur Steuerung der Zuwanderung
Während den Verhandlungen haben sich die Schweiz und die EU auf eine Neu-Konzeption der bestehenden Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommend geeinigt, die bei schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen ausgelöst werden kann. Der Bundesrat wird gleichzeitig mit der Botschaft zu den Bilateralen III einen Gesetzesentwurf im Rahmen des Ausländer- und Integrationsgesetzes erarbeiten, unter welchen Voraussetzungen die Schutzklausel greifen wird und welche Schutzmassnahmen denkbar sind.
Keine fremden Richter vorgesehen
Auch in den aktualisierten Verträgen gibt es keine fremden Richter: Mit dem neuen Streitbeilegungsmechanismus entscheidet die Schweiz bei Streitigkeiten in einem paritätischen Schiedsgericht mit und wird künftig damit weniger Opfer von sachfremden Vergeltungsmassnahmen seitens der EU, wie dies beispielsweise bei der Forschungszusammenarbeit oder der Anerkennung der Börsenäquivalenz der Fall war.
Die Schweiz entscheidet im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme eigenständig und unter Berücksichtigung ihrer direkt-demokratischen Prozesse (gewährleistung der Referendumsmöglichkeit). Akzeptiert sie in einem bestimmten Fall die Rechtsauslegung des EuGH bzw. den Entscheid des Schiedsgerichts nicht, so kann die EU verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen im betreffenden oder einem anderen Binnenmarktabkommen gegen die Schweiz ergreifen.
Ohne Erneuerung der Verträge erodieren die bisherigen Abkommen
Wenn wir die bestehenden Verträge nicht erneuern, ist der bilaterale Weg gefährdet. Der Status quo ist keine Option, weil die Schweiz so den diskriminierungsfreien Marktzugang schleichend verlieren würde. Ohne Aktualisierung würden die bestehenden Abkommen nacheinander erodieren. Erste Folgen dieser Erosion zeigten sich beispielsweise bereits im Bereich der Medizinaltechnik, wo Medtech-Firmen für die Marktzulassung mehrere Hundert Produkte neu zertifizieren lassen mussten, weil das entsprechende Abkommen abgelaufen und von der EU nicht erneuert worden war.
Ohne Vertragserneuerung würden auch die Beziehungen im Bereich der Bildung und Forschung mittelfristig erodieren: Als Konsequenz wären Forschende ohne Zugang zum Programm Horizon nicht mehr gleich in die europäische Forschungszusammenarbeit eingebunden. Was die Folgen davon sind, hat die Schweiz bereits einmal schmerzhaft zu spüren bekommen.
Bilateraler Weg als massgeschneiderte Lösung für die Schweiz
Mit dem bilateralen Weg hat die Schweiz über Jahrzehnte in entscheidenden Bereichen von Europas Potenzial profitiert – sei es durch qualifizierte Zuwanderung, stabile Lieferketten oder bessere Absatzchancen für innovative Produkte. Die Abkommen erlauben eine massgeschneiderte Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU wie sie kein anderes Land in dieser Form kennt.
Der bilaterale Weg ist sicher nicht alternativlos: Aber er ist die bessere Option als ein Freihandelsabkommen, das vor allem Zölle senkt und erst auszuhandeln wäre, oder ein EWR-Beitritt, der mehr Rechtsübernahme beinhaltet und in der Integration wesentlich weiter ginge als die bilateralen Verträge.
In der kommenden Abstimmungsdiskussion sollten wir deshalb den Blick aufs grosse Ganze nicht verlieren und diesen massgeschneiderte Weg der Zusammenarbeit für die Schweiz auch in Zukunft sichern.