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Bilaterale Verträge mit der EU: Worum geht es?

Die EU ist die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz und gerade auch für die Ostschweiz von besonderer Bedeutung. Die hiesige Wirtschaft zeichnet sich durch eine starke Industriebasis und Exportaktivität aus. Mit den europäischen Nachbarregionen ist sie eng verflochten – knapp zwei Drittel der Warenexporte gehen in die EU. Die bilateralen Verträge haben entscheidend zu Wohlstand und Innovation in der Schweiz beigetragen. Die IHK Thurgau setzt sich deshalb dafür ein, dass der bilaterale Weg fortgeführt wird.
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Die Bundesräte Joseph Deiss und Pascal Couchepin stiessen 1999 mit dem deutschen Aussenminister Joschka Fischer auf die Unterzeichnung der Bilateralen I an.

2024 ist ein Jubiläumsjahr: Vor 25 Jahren schloss die Schweiz die ersten Bilateralen Verträge mit der EU ab, vor 20 Jahren folgten die Bilateralen II. Mit den aktuell laufenden Verhandlungen stehen wir erneut vor der Frage, wie wir die Beziehung zur EU künftig gestalten wollen.

Bilaterale I: Begründung des Binnenmarkts

Das Kernstück der Bilateralen I bilden die fünf Abkommen zum europäischen Binnenmarkt: das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse, die Regelung der Personenfreizügigkeit sowie die Abkommen zu Land- und Luftverkehr und der Landwirtschaft.

Ebenfalls Teil der Bilateralen I ist das Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen, welches festlegt nach welchen Kriterien bestimmte Beschaffungen international öffentlich auszuschreiben sind.

Das letzte Abkommen der Bilateralen I betraf die Zusammenarbeit in der Forschung – jenes war aber zeitlich begrenzt und muss nach Ablauf einer Programm-Periode jeweils erneuert werden.

Die sieben Abkommen wurden parallel verhandelt und rechtlich mit der sogenannten Guillotine-Klausel verknüpft. Das bedeutet, dass sämtliche sieben Abkommen innerhalb eines halben Jahres ausser Kraft treten, wenn eine der Vertragsparteien eines davon kündigt.

Das Forschungsabkommen von 1999 ist aufgrund des Programmendes 2002 ohnehin ausgelaufen und musste separat erneuert werden. Die Forschungszusammenarbeit wurde im Laufe der Zeit immer wieder zum Druckmittel der EU gegenüber der Schweiz. Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wurde sie seitens der EU nicht mehr erneuert, was die Teilnahme an europäischen Forschungsprojekten für die Schweiz stark einschränkt.

Das Vertragswerk der Bilateralen I unterstand dem fakultativen Referendum und wurde vom Schweizer Stimmvolk im Jahr 2000 mit 67 % Ja-Stimmen angenommen.

Bilaterale II: Vertiefung der Zusammenarbeit

2004 wurde die Zusammenarbeit im Rahmen des eingeschlagenen Weges mit den sogenannten Bilateralen II hinsichtlich verschiedener weiterer Themengebiete vertieft.

Für die Schweiz war das Kernstück der zweiten Verhandlungsrunde die Assoziierung zu den beiden Abkommen Schengen und Dublin: Das Schengener-Abkommen regelt den Abbau der Grenzkontrollen innerhalb der EU und den weiteren Vertragsstaaten sowie den Zugang zum Schengener Informationssystem für die Kriminalitätsbekämpfung. Das Dublin-Abkommen betrifft die Vereinbarung zur Kooperation im Bereich des Asylwesens.

Zusätzliche Aspekte der Bilateralen II regeln den automatischen Informationsaustausch, die Betrugsbekämpfung, den Handel mit verarbeiteten Landwirtschaftsprodukten, die Zusammenarbeit von Kulturschaffenden, die Teilnahme der Schweiz an der Europäischen Umweltagentur (EUA), die Vereinheitlichung der statistischen Datenerhebung zwischen der Schweiz und der EU sowie die Beteiligung an Austausch- und Mobilitätsprogrammen im Bereich der Bildung (z.B. Erasmus+).

Die Bilateralen II wurden zwar parallel verhandelt, sind aber – anders als die Bilateralen I – rechtlich nicht miteinander verknüpft. Auch nach ihrem Inkrafttreten bauten die EU und die Schweiz die Zusammenarbeit in ausgewählten Interessenbereichen weiter aus.

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Bilaterale III in der Übersicht (Quelle: economiesuisse)

Bilaterale III: Weiterentwicklung des Binnenmarktes und Regelung institutioneller Fragen

Um den gemeinsamen bilateralen Weg auch für die Zukunft weiter beschreiten zu können, ist eine Aktualisierung Binnenmarktabkommen unabdingbar. Dies, weil sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft im Binnenmarkt laufend weiterentwickeln, ebenso wie das EU-Recht. Einige Bestimmungen sind deshalb überholt und müssen aufdatiert werden.

Die EU macht ihre Bereitschaft zur Fortführung des bilateralen Wegs zudem von der Regelung institutioneller Fragen abhängig. Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens im Mai 2021 wurden die Gespräche wieder aufgenommen und im Dezember 2023 verabschiedete der Bundesrat einen Mandatsentwurf für die laufenden Verhandlungen der Bilateralen III.

Diese knüpfen an die ersten bilateralen Verträge an: Thematisch werden die fünf bestehenden Binnenmarktabkommen aktualisiert und um zwei weitere – Strom und Lebensmittelsicherheit – ergänzt. Dabei verfolgen sie einen «Paketansatz», der verschiedene inhaltliche Themen aber auch die Lösung institutioneller Fragen umfasst. Letztere betreffen vor allem die dynamische Rechtsübernahme für Abkommen des Binnenmarktes sowie die Regelung der Streitbeilegung: Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien sollen künftig sektoriell, d.h. im Rahmen des jeweiligen Abkommens gelöst werden. Damit wird vermieden, dass sachfremde Vergeltungsmassnahmen in anderen Bereichen ergriffen werden.

Teil des Pakets ist zudem die gesicherte Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen – z.B. im Bereich der Forschung (Horizon), der Bildung (Erasmus) und der Innovation. Neu hinzu kommt eine Kooperation im Bereich der Gesundheit. Zudem verpflichtet sich die Schweiz, einen verstetigten Beitrag an den Kohäsionsfonds zu leisten.

Wissen, was wir wollen

Der bilaterale Weg ist nicht alternativlos: Werden die bilateralen Verträge nicht erneuert bedeutet das jedoch, dass diese Verträge schleichend erodieren und irgendwann in eine Sackgasse führen. Alternativen wären einerseits eine geringere Integration mit der EU, beispielsweise mit der Neu-Verhandlung eines Freihandelsabkommens. Andererseits ist eine stärkere Integration eine Alternative – zum Beispiel ein EWR- oder EU-Beitritt, die aber politisch kaum Mehrheiten fänden.

Von einem Wegfall der bilateralen Verträge wäre der Kanton Thurgau besonders stark betroffen: Eine von den Handelskammern Thurgau und St.Gallen-Appenzell in Auftrag gegebene Studie rechnet mit einem Rückgang der Bruttowertschöpfung um 8 % pro Jahr bis ins Jahr 2040. Ein Wegfall der bilateralen Verträge und des erleichterten Marktzugangs wäre für die Schweizer Unternehmen mit hohen Kosten und grosser Rechtsunsicherheit verbunden. Auch gesellschaftliche Errungenschaften wie die freie Wahl von Studien- und Arbeitsort oder barrierefreies Reisen in Europa gingen verloren.

Für die IHK Thurgau ist die Fortführung des bilateralen Wegs die beste Alternative. Sie setzt sich deshalb dafür ein, dass die Schweiz diesen Weg fortführt, denn er hat uns zahlreiche wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile gebracht.